Innovationscheck: Neue Narrative – Sehnsucht nach Wandel

Neue-Narrative-Gründer:innen Lena Marbacher und Sebastian Klein

Neue-Narrative-Gründer:innen Lena Marbacher und Sebastian Klein

Das Team von „Neue Narrative“ will die Arbeitswelt revolutionieren. Im Fokus des Wirtschaftsmagazins stehen flache Organisationsstrukturen, mehr Selbstbestimmung und Vielfalt in Unternehmen. Eine Chefredaktion gibt es deshalb genauso wenig wie eine Geschäftsführung.

Corona hat vielen Arbeitnehmer:innen zugesetzt, aber auch Sehnsüchte geweckt: nach einer ökologischeren Wirtschaft, weniger Konsumorientierung, mehr Ganzheitlichkeit und einem Arbeitsumfeld, in dem Achtsamkeit und Sinnstiftung statt Karrierestreben und Gewinnausschüttung im Fokus stehen. Schließlich lassen sich mit Geld weder Lebenszeit noch nachhaltiges Glück erkaufen. 

Zu diesem Mentalitätswandel passt das Printmagazin „Neue Narrative“ mit Sitz in Berlin. Ob auf bedrucktem Papier, als Podcast, via Newsletter, in digitalen Workshops oder als Inhouse-Beratung: Mit der digitalen Arbeitswelt setzt sich das 2017 gegründete Projekt für modernes Leben und Arbeiten auseinander. Dass das Bedürfnis nach einem Wandel groß ist, kommt dem Team von „Neue Narrative“ zugute: Seit die Deutschen ins Homeoffice gezwungen wurden, ist plötzlich überall von Agilität und Selbstführung die Rede, von achtsamer Führungskultur, Diversität, Werteorientierung, digitalen Workflows, Resilienz und anderen hübschen Schlagworten, die konventionelle Arbeitgeber:innen über Jahre erfolgreich ignoriert haben. Ginge es nach Lena Marbacher und ihrem Mitgründer Sebastian Klein, die das Unternehmen als Ableger ihres vorherigen Arbeitgebers, der Unternehmensberatung The Dive, ausgegründet haben, ist nun Schluss damit. 

„Für uns geht es darum, wie man Organisationen zum Positiven verändern kann“, sagt Marbacher. Leider dauere es oft lang, bis sich in Deutschland etwas verändere. Trotz dieser trägen Veränderungsbereitschaft würde „in Unternehmen alle Individuen die gleiche Sehnsucht“ umtreiben. Marbacher umschreibt sie mit dem Traum von einer „ego- und machtfreien Wirtschaft“, die weniger vom weißen männlichen Habitus dominiert wird und den Erfolg von Unternehmen nicht an der Profitmaximierung, sondern an der Zufriedenheit ihrer Mitarbeitenden misst. 

Auch deshalb versteht Marbacher „Neue Narrative“ als konstruktiven Wirtschaftsjournalismus, der Werte wie Vertrauen und Nachhaltigkeit in den Blick nimmt und Perspektiven formulieren will. Wer mit ihr spricht, merkt schnell, dass die 39-jährige promovierte Produktdesignerin eine redegewandte Überzeugungstäterin ist – und das im besten Sinne. Die freiheitsliebende Kreative wünscht sich sehnlichst einen „manifesten Kulturwandel“ der Erwerbsarbeit herbei. Klar, dass sie sich selbst in einer klassischen Organisationsstruktur unbehaglich fühlen würde: Kontrolle, Micromanagement, ständiges Reporting und ein „Klima der Angst“, wie es Führungskräfte oft unbeabsichtigt verbreiteten, um die Leistungsbereitschaft ihrer Beschäftigten vermeintlich anzukurbeln – das ist für sie nicht vorstellbar. Um gegen Ungerechtigkeiten anzukämpfen, die aus einer toxischen Organisationskultur resultieren, hat sie mit dem gleichaltrigen Klein das Magazin gegründet, das – deshalb der Name – neue Erzählungen für modernes Arbeiten publiziert. Wen das interessiert? Zielgruppe sind laut Marbacher alle, die „sich in ihrer Arbeit gerade mit Veränderung beschäftigen“, etwa in Führungspositionen mit Transformation befasst sind, im HR-Bereich oder in Teams, in denen agiles oder selbstorganisiertes Arbeiten stattfindet, beispielsweise Scrum-Teams.

Das dreimal jährlich erscheinende Heft will anregen, mitgestalten, Mut machen, für Klarheit sorgen, um die abstrakte Arbeitswelt von morgen in menschlichen Kategorien zu skizzieren: Es geht daher in den Ausgaben um große Themen, die sich eher selten in die „Wirtschaftswoche“ oder das „Manager Magazin“ verirren würden: „Krankheit“, „Beziehungen“, „Mut“, oder „Ego“. „Neue Narrative“ gelingt es, diese anhand kleiner Dinge zu veranschaulichen. So findet sich auf einem großformatigen Poster (zum Aufhängen im Büro) ein „Check-in mit sich selbst“. Darauf sollen Betrachter das eigene „Energielevel“ eintragen, „angenehme und unangenehme Gefühle“ offenbaren und beschreiben, wie voll oder leer ihre „Bedürfnisgläser“ sind. Arbeitnehmern soll damit eine Strukturierungshilfe an die Hand gegeben werden, um ihre „aktuelle Gemüts- und Bedürfnislage zu reflektieren“. Ob solcherlei Handreichungen auf neuesten arbeitspsychologischen Erkenntnissen beruhen, spielt erst einmal keine Rolle. Sie sind humorvoll gestaltet, regen zum Reflektieren und Mitmachen an, und lohnen schon deshalb die Lektüre.

Der radikale Kulturwandel, den Marbacher und Klein prophezeien, spiegelt sich auch in ihrem eigenen Arbeitskosmos wider: Der Verlag hat keinen Geschäftsführer, die Redaktion arbeitet hierarchielos und selbstorganisiert, sie kommt ohne Chefredaktion aus. Stattdessen werden in Teams Rollen und Prozesse definiert: „Menschen sind bei uns nicht für Politik und Machtkämpfe da, sondern für Herz und Kreativität“, lautet die Selbstbeschreibung. Zu diesem Image passt, dass das Magazin „im Sinne einer ökologisch verträglichen Kreislaufwirtschaft“ hergestellt wird. Das Team, so heißt es, wolle mit seinem Handeln einen positiven Beitrag leisten: „Verantwortungsbewusstes Wirtschaften heißt für uns, auch nachfolgende Generationen und den Rest der Welt im Blick zu haben.“ 

Das publizistische Verdienst des 20-köpfigen Teams von „Neue Narrative“ ist es, die Leser:innen für die feinen Unterschiede des Arbeitslebens zu sensibilisieren. Im Sinne der Selbstwirksamkeit bietet das Magazin Freiräume zum Selbstdenken und Ausprobieren: Im Heft begegnen einem liebevoll gestaltete Illustrationen, Check-ins, Grafiken, Templates, Reflexionsfragen, Schnittbögen, Umfragen und sogar leere Seiten zum Selbstausfüllen. Das scheint den Abonnent:innen zu gefallen: Weil vom Kiosk-Verkauf nicht viel hängenblieb, hat man sich für einen exklusiven Abo-Vertrieb entschieden. Der erwirtschaftet den Hauptumsatz mit derzeit rund 11.500 Magazin-Abonnements.

Dass das Werben um ein nachhaltigeres, menschenfreundlicheres Wirtschaftssystem keine Worthülsen sind und es „Neue Narrative“ ernst meint, zeigt sich auch darin: Vor einigen Monaten wurde die 2019 gegründete GmbH in „Verantwortungseigentum“ überführt. Demnach gehört das Unternehmen keinem Investor, sondern „den Menschen, die aktuell im Unternehmen arbeiten“.


Der Innovationscheck

 
Neue Narrative Logo
 

Was ist das? 

Dreimal jährlich erscheinendes anzeigenfreies Wirtschaftsmagazin zum Thema „Neues Arbeiten“. Die Redaktion bietet passend zum Heft einen Newsletter, Audio-Trainings, Coaching-Sprechstunden, Inhouse-Seminare, Bücher, eine Tool-Platt-form („9 Spaces“) und ein New-Work-Glossar an. 

Was ist das Besondere? 

Das Selbstverständnis der in „Verantwortungseigentum“ geführten Medi-en GmbH, in der es keine Positionen, sondern unterschiedliche Rollen gibt. Unkonventionell ist auch die kreative Umsetzung – vom Gesamtlayout über die Themenschwerpunkte und die Nutzeransprache bis hin zu innovativen Grafiken für einen konstruktiven Mitmach-Journalismus.

Was bringt das? 

Das Team tritt für eine Denkschule ein, wonach Erwerbsarbeit nicht als Mittel zum Zweck, sondern als an Werten orientierte Berufung und als Ort der sozialen Sinnhaftigkeit verstanden wird.

Wie wird das Geld verdient? 

Klassische Print-Abonnements, flankiert vom vielfältigen Workshop-Angebot zum Thema New Work, erwirtschaften zusammen einen Millionenumsatz. Zudem fließt Geld von Purpose-Investoren, die sich statt satter Rendite sozialen Impact erhoffen. Keine Fremdanzeigen, hin und wieder Sponsoren.

www.neuenarrative.de


Der Text erschien zuerst in der Druckausgabe 4/2021 des Medium Magazins im Oberauer Verlag. Er wurde von der Redaktion geringfügig aktualisiert und nachträglich gegendert.


 

Stephan Weichert

Stephan Weichert ist Medien- und Kommunikationswissenschaftler. Mit Leif Kramp und Alexander von Streit hat er 2021 das VOCER Institut für Digitale Resilienz gegründet. Er ist Mitinitiator des VOCER #Netzwende Awards. Zuletzt hat er die 45-minütige Dokumentation „Medienmacher von morgen. Eine Deutschlandreise ins Digitale“ (WDR/ 3sat) veröffentlicht.

 

Stephan Weichert

Stephan Weichertist Medien-und Kommunikationswissenschaftler. Mit Leif Kramp und Alexander von Streit hat er 2021 das VOCER Institut für Digitale Resilienz gegründet. Er ist Mitinitiator des VOCER #Netzwende Awards.